Präsentationen aus der Welt der ene't Produkte an beiden Tagen zeigten anhand praktischer Beispiele, welche Lösungen die Anforderungen an Bündelkalkulationen, Wettbewerbsbeobachtung, Marktkommunikation oder Tarifkalkulationen abdecken können. Großes Interesse weckten auch die Vorträge zur Erstellung individueller Karten oder der Optimierung von Online-Bestellstrecken, genauso wie Dipl.-Ing. Roland Hambachs Analyse, welches Vertriebspotenzial sich aus dem anhaltenden Elektromobilitäts-Boom ergibt. Insgesamt gab es mehr als 370 Anmeldungen zu den einzelnen Programmpunkten.
Tief in die Materie stiegen die Diskutanten der Podiumsdiskussion zum Thema „Digitalisierungsgrad in EVU – Zwischen Anspruch und Wirklichkeit“ ein. Es wurde die grundlegende Frage gestellt, ob Energieversorger transformationsunwillig seien oder nur die passenden Dienstleistungsangebote fehlen. Corona habe ja vieles offenbart, eröffnete die Fachjournalistin Stefanie Dierks (energate GmbH) die Diskussion als Moderatorin, in den Gesundheitsämtern würde noch mit dem Faxgerät gearbeitet. Sie gab die Frage, wo denn die Energiebranche bei der Digitalisierung stehe, an Kai Wachholder (Städtische Werke AG, Kassel) weiter. Dieser war mit der These „Schnelle Anpassungen an den Markt sind nicht Teil der DNA von klassischen Stadtwerken“ angetreten.
Tatsächlich sei das Fax noch regelmäßig im Einsatz, berichtete er, beispielsweise bei Widersprüchen in Kundenwechselprozessen. Aber auch in Kassel werde vieles digitaler, nicht zuletzt seit praktisch alle Kollegen coronabedingt im Homeoffice arbeiteten. Die Digitalisierung sei wichtig zur Automatisierung von Prozessen und zur Einführung neuer Produktangebote oder Bundlings. Denn dabei „tun wir uns als Stadtwerk schwer“, machte er auf ein grundlegendes Problem aufmerksam. Denn der Einsatz monolithischer Systeme wie SAP baue „große Hürden auf“, wenn man vom allgemeinen Standard abweichen möchte. „Prozesse zu ändern, ist auch extrem schwierig“, berichtete er, weil einerseits das System diese Möglichkeiten anbieten und andererseits auch die Benutzer mitziehen müssten. Der Wunsch nach Standardisierung und Automatisierung stehe dabei im Gegensatz zur notwendigen Flexibilisierung, um auf geänderte Kundenwünsche und andere Marktveränderungen eingehen zu können – alles in allem eine „riesige Herausforderung“.
Diese Einschätzung teilte auch Manuela Kukuruzovic (SWM Versorgungs GmbH). Sie sieht die Probleme bereits an der Schnittstelle zum Kunden. In München habe man das erklärte Ziel, seinen Endkunden das „komplette Potpourri an Möglichkeiten der Kommunikation mit uns anzubieten“. Daraus folge: „Wenn der Kunde analog möchte, bekommt er analog.“ Trotzdem sei man auch schon vor Corona auf einem „sehr, sehr guten Digitalisierungspfad“ gewesen. Auch sie betonte die Einschränkungen durch monolithische Systeme, die nur auf Lieferprodukte ausgelegt seien. Sobald man einen kreativeren Ansatz verfolge wie beispielsweise Bündelprodukte oder zusätzliche Dienstleistungen, werde die Abbildung im System schwierig.
Dr. Siegfried Numberger (Preisenergie GmbH) betonte, dass man nicht alle EVU „über einen Kamm scheren“ könne: „Da gibt es EVU, die sind sehr, sehr digital.“ Es sei nicht so, dass Energieversorger bisher nur mit Papier und Stift gearbeitet hätten: „Es gab ja Digitalisierung schon in der Vergangenheit.“ Ursprünglich habe die Digitalisierung allerdings einen anderen Fokus auf Prozesseffizienz und Automatisierung gehabt, was „in der Vergangenheit super funktioniert hat.“ Heute gingen die Anforderungen eher in Richtung Flexibilisierung und Geschwindigkeit in der Umsetzung von Änderungen. Die Individualisierung biete die Chance, sich von anderen Stadtwerken zu differenzieren. Die Innovationsführer setzten daher nicht auf etablierte Systeme, sondern implementierten ihre IT-Systeme selbst – als sogenannte Early Adopter versprächen sie sich davon einen Wettbewerbsvorteil. Eine Strategie, die nicht für jedes EVU passe, daher habe er „sehr großes Verständnis“ für die unterschiedliche Transformationsgeschwindigkeit einzelner Stadtwerke.
Jörg Heitmann (EVE Consulting und Beteiligungsgesellschaft mbH) berichtete aus seiner Erfahrung, dass viele kleinere Unternehmen versuchten, möglichst alles und alles auf einmal zu digitalisieren – und sich dabei fast an den Investitionen überheben würden. Er plädierte für eine schrittweise Umsetzung und empfahl, erst einmal einzelne Bereiche zu digitalisieren und die sich daraus ergebenden Chancen zu nutzen. Insbesondere der Kommunikationsstandard BO4E biete gute Hilfsmittel, die Stadtwerken und EVU dabei das Leben erleichtern könnten. Insgesamt seien die Unterschiede im Digitalisierungsgrad der Unternehmen groß – im Übrigen unabhängig von der Generation der Entscheider. Auch die „alten Hasen“ seien offen für neue Ansätze: „Ein frischer Geist, würde ich mal behaupten, der wird alles zulassen und alles ermöglichen. Wir haben viele Chancen, die wir da heben können.“
Um Verständnis für die Situation der Versorgungsunternehmen warb Dipl.-Ing. Peter Martin Schroer (Interessengemeinschaft Geschäftsobjekte Energiewirtschaft e. V.): „Ich kenne keine andere Branche, keinen anderen Industriezweig, der einem derartigen Wandel unterworfen ist.“ Die vergangenen zwei Jahrzehnte hätten gravierende Änderungen mit sich gebracht. Früher belieferten sie nur Abnehmer, heute müssten sie sich dagegen mit Prosumern auseinandersetzen. Versorger seien gezwungen, auf diese neuen Herausforderungen zu reagieren, doch „es kann nicht alles auf einmal vollzogen werden.“
„Im Grunde genommen stehen wir uns ja selber im Wege“, ergänzte Kai Wachholder. Starre Planungsprozesse und wenig Möglichkeiten zum flexiblen Reagieren auf den Markt erschwerten Innovationen. Er plädierte dafür, einfach Ideen auszuprobieren und ‚schnelles Scheitern‘ zuzulassen, ohne erst groß in Systeme zu investieren. „Man braucht jetzt keine riesige Digitalisierungsstrategie – sondern ‚einfach mal machen‘“, fasste Stefanie Dierks zusammen.
Da konnte auch Siegried Numberger nur zustimmen: ‚Einfach mal machen‘ spreche für eine unternehmerische Kultur des Ausprobierens. Man könne aus digitalen Unternehmen sehr gut lernen, „dass man eben nicht alles schon komplett durchdigitalisiert haben muss, bevor man dem Kunden ein Produkt anbietet“. Extrem wichtig sei das Lernen über Kundenbedürfnisse. Insbesondere in der Kommunikation mit den Kunden seien andere Branchen voraus, ergänzte Kai Wachholder, beispielsweise bei Online-Banking, Telekommunikationsverträgen, Online-Shopping oder der Paketverfolgung. Eine Anregung, die auch Jörg Heitmann aufgriff. Er fragte sich, warum man nicht eine Auftragsverfolgung bei Energielieferverträgen visualisieren könnte, auch mit den notwendigen Zwischenschritten, die ein Kunde normalerweise gar nicht kenne, wie beispielsweise der Netzanmeldung. Das Ausspielen der vorhandenen Daten aus einem CRM wäre grundsätzlich machbar: „Das können wir doch alles schon, das ist doch kein Hexenwerk und auch keine Raketenwissenschaft!“
In seinem Vortrag hielt Joscha Metze (Hochfrequenz Unternehmensberatung GmbH) Rückschau auf das vergangene Jahr in der Interessengemeinschaft Geschäftsobjekte Energiewirtschaft e. V. Auch wenn pandemiebedingt alles anders ablief als geplant, war es aus seiner Sicht ein gutes und interessantes Jahr für den Kommunikationsstandard BO4E. Das gemeinsame Arbeiten wurde „schlagartig virtuell“, und „die in Projekten Zusammenarbeitenden mussten sich alle ganz gewaltig umstellen“. Dennoch blieb der gemeinsame Wille zur Standardisierung erhalten, und auch die virtuelle Roadshow 2020 ermöglichte neue, spannende Gespräche.
Hochinteressant war sein Blick in die Praxis, in welchen Projekten BO4E bereits produktiv im Einsatz ist. Die LYNQTECH GmbH setzt entsprechende Lösungen in ihren Dienstleistungsprodukten ein und konnte damit bereits 23 Millionen Business Events von 700.000 Marktlokationen mit 900.000 Zählern abwickeln. Hochfrequenz selbst bietet kostenfreie Open-Source-Bibliotheken für Entwicklungsumgebungen an, beispielsweise in den Programmiersprachen Python oder C#. Zudem entwickelt das Unternehmen zusätzliche Funktionen wie Verschlüsselung, Anonymisierung oder Validierung von Geschäftsobjekten. In der Ausgründung utili.bee bietet man darüber hinaus auch Schnittstellen zu SAP IS‑U und Salesforce an.
Der Ansatz, Geschäftsobjekte zur system- und unternehmensübergreifenden Datenkommunikation zu verwenden, ermögliche es, „Silos aufzubrechen“. „In der Cloud-first-Welt muss man sich beim Datenmodell immer weiter öffnen, um Systeme zu integrieren“, war sich Joscha Metze sicher. BO4E biete eine zentrale Dokumentation und produktionsbereiten Code, um unterschiedlichste Lösungen miteinander zu verknüpfen. Man müsse nur „einfach los laufen“.
Ein Praxisbeispiel zur gelungenen Verbindung zweier Softwareprodukte unterschiedlicher Hersteller präsentierten Markus Rahe (KISTERS AG) und Roland Hambach. Mithilfe von Geschäftsobjekten wurde ein Verbundprozess von KISTERS BelVis und dem ene't Navigator® geschaffen. Beide Lösungen zur Tarifkalkulation von Energieprodukten haben einen unterschiedlichen Funktionsumfang, und beide decken allein nicht vollständig alle Kundenwünsche ab. Beispielsweise enthält BelVis keine Wettbewerbsanalyse, der ene't Navigator® dagegen keine direkte Anbindung an Abrechnungssysteme. „So wie die Lösungen bisher waren, waren die gut, aber nicht ausreichend für die tatsächlichen Prozessanforderungen im Markt“, fasste Markus Rahe zusammen. Damit standen beide Softwarehäuser vor einer großen Herausforderung: „Dann müssen wir eine richtig starke Lösung bauen.“ Gemeinsam beriet man intensiv über Grundlagen und Umsetzung und integrierte schließlich den ene't Prozess der Regionalen Angebotskalkulation in BelVis. Eine Lösung, die beiden Seiten eine komplette Neuentwicklung ersparte und somit für Energieversorger bezahlbar bleibt.
In einer Live-Demonstration zeigten beide, wie in BelVis ein Tarif angelegt und als BO an die ene't Plattform übergeben wird, ohne den Benutzerkontext von KISTERS ganz zu verlassen. Auf dem auch optisch eingebetteten ene't Navigator® können sodann alle integrierten Funktionen des Prozesses wie Tarifvergleich, Positionsanalyse, Rohmargenanalyse und Tarifoptimierung verwendet und der fertige Tarif im Anschluss an BelVis zurückgegeben werden.
Alexander Linzen konnte ebenfalls das Ergebnis einer erfolgreichen Zusammenarbeit präsentieren. In enger Abstimmung mit dem Mandanten medl GmbH wurde ein Prozess zur Anpassung von Bestandskundenpreisen entwickelt. Ziel war ein Produkt, das kostenbasiert und margensicher die Lieferkonditionen aktiver Verträge auf notwendige Anpassungen prüft, sobald sich die zugrunde liegende Kostenstruktur ändert. Gleichzeitig sollen keine Kündigungen riskiert werden, sofern die errechnete Preisanpassung nur marginal ausfallen würden. Die Kundenbindung ist somit neben der Kostendeckung ebenfalls wichtig.
In einer Live-Demonstration ließ sich dann das Ergebnis im produktiven Prozess betrachten. Die Bestandskundenpreise werden darin in den ene't Navigator® importiert und eine Margenanalyse der bestehenden Lieferkonditionen durchgeführt. Im Anschluss erfolgt die neue Kalkulation des Tarifs mit den aktualisierten Kostenstrukturen. Vor dem letzten Schritt auf der Plattform kann ein Wert für den Parameter „Minimale Änderung für Preisanpassung“ angegeben werden, um eine tolerierbare Schwelle festzulegen. Erst bei Überschreitung dieses Wertes meldet die App einen Anpassungsbedarf. Abschließend werden die Ergebnisse an das Kundensystem zurückgegeben.
Die Entwicklung des Prozesses Preisanpassung Bestandskunden SLP erfolgte in gemeinsamen, iterativen Schritten in zweiwöchigem Zyklus. Von der ersten Definition bis zur funktionsfähigen Beta-Version vergingen nur rund drei Monate.
Weitere interessante Einblicke in die Plattform ene't Navigator® eröffnete der Vortrag von Tim Steufmehl, Partnerbetreuer der ene't GmbH. Er fokussierte seine Präsentation auf die Möglichkeiten, welche die Plattform für Partner bietet. Jeder Softwarehersteller – auch Wettbewerber – kann hier Stand-alone-Apps genauso wie komplexe Prozesse aus mehreren Bausteinen diskriminierungsfrei anbieten, solange seine Lösungen den OAuth- und den BO4E-Standard unterstützen. Damit soll die freie Austauschbarkeit aller Apps gewährleistet bleiben, denn „letztendlich soll der User entscheiden, was für seinen Workflow das Beste ist“.
Der ene't Navigator® bringt als Platform-as-a-Service-Lösung (PaaS) schon eine Benutzer‑, Lizenz- und Berechtigungsverwaltung sowie die Prozesssteuerung mit. Ein App-Katalog und das gemeinsame BO-Repository zum Austausch von Geschäftsobjekten gehören ebenso zur Infrastruktur wie die optionale Möglichkeit des Hostings im ene't Rechenzentrum. Nicht zu vergessen ist dabei der aktive Nutzerstamm der Plattform, der für jede neue App bereits eine potenzielle Kundengruppe darstellt. Und für Early Adopter ist die Integration in den ene't Navigator® derzeit noch gebührenfrei.